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23 und 20 Jahre

Erkennt man den Wert eines Menschen erst dann, wenn man ihn verloren hat? Ich meine das ist nicht so. Im Kern sicher nicht, Vieles geschieht, weil man sich auseinanderentwickelt. Meine Schwester und ich, da war das so, was aber auch daran lag, dass sie sieben Jahre älter war als ich, immer die bestimmende Schwester, ich war halt die kleine Schwester. Das war als wir erwachsen waren nicht immer schön, aber trotz allem, wenn eine in Schwierigkeiten steckte, dann half die andere oder als unser Bruder gestorben ist gaben wir uns Halt, genauso als unser Vater gegangen ist.

Heute vor 23 Jahre ist sie über die Regenbogenbrücke gegangen, ich war da, habe ihre Hand gehalten. Leere. Haltlosigkeit. Sie fehlt mir so sehr, ebenso wie mein großer Bruder, da ist niemand mit dem ich von „früher“ erzählen kann, über Familiengeschichten lachen kann.

In den folgenden Jahren, mit Ausnahme eines einzigen Jahres, das war 2006, kam meine Mutter immer zu diesem Gedenktag zu uns nach Berlin. Ich wollte nicht, dass sie an diesem Tag allein in meiner Heimatstadt ist. Es ist grausam ein Kind zu verlieren, wie schlimm ist es ein zweites gehen lassen zu müssen? Ich will das nicht wissen, ich kenne niemanden, der das wissen will.

Dieser Tag, der 28. Juli hat es in sich. Es waren Sommerferien, meine große Tochter war bei ihrem Freund, meine Kleine zu Hause, mein Mann hatte Urlaub, meine Mutter war auch da. Ich duschte, holte Brötchen und Zeitungen, es war warm, wir wollten draußen sitzen. Ich hatte ein Gribbeln im Bauch, so als hätte ich etwas vergessen. Da war noch was, aber was? Ja, ich musste in der Einrichtung in der mein Sohn lebte anrufen, dass die nicht vergessen Andreas am folgenden Tag nüchtern zu lassen, da dieser eine Zahn-OP haben sollte. Also alles war ok, alles war im Lot. Ferien.

Das Telefon läutete, an der Nummer im Display konnte ich erkennen, dass es die Einrichtung war, aber nicht die Nummer von Andreas Wohngruppe. Ich nahm das Gespräch an und hörte nur noch, dass Andreas reanimiert wurde, es sähe schlecht aus. Ich habe das wohl schon erzählt, mein Mann, der das mitbekommen hatte, stand schon bereit, ich rief meiner Mutter und meiner Tochter zu, dass etwas mit Andreas sei. Ich lief meinem Mann zum Auto nach, so wie ich war Shorts mit unpassendem Shirt, ohne Handy, ohne Tasche mit Nichts bin ich ins Auto gestiegen.

Mit seinem Handy rief ich unsere Große an, die sich bereit machen wollte zu kommen. Das Kribbeln in meinem Bauch hörte auf der Hälfte der Strecke zu ihm auf. Schlagartig. Ich war diese Strecke oft gefahren, wenn Andreas durch einen Sturz eine Platzwunde am Kopf hatte und in die Erste Hilfe gebracht werden musste. Ohne, das sich da war, ließ er sich nicht nähen. Andreas war ein zwei-Meter-Mann mit ordentlichen Kräften. Tränen kamen auf.

Inzwischen haben wir die Einrichtung erreicht. Vor dem Haus stand die freiwillige Feuerwehr, ich glaube sie waren mit allen Fahrzeugen, die sie hatten, ausgerückt und standen vor der Tür. Ein Notarztwagen stand da, er fiel mir auf, weil er ein Autokennzeichen aus Brandenburg hatte. Ich stieg aus, mein Mann wollte noch das Auto wegfahren, damit er der Feuerwehr nicht im Weg war. Natürlich wohnte Andreas in der letzten Wohngruppe. Ich lief einen endlos erscheinenden Flur, durch ein Spalier an Menschen, links die Feuerwehr, rechts Mitarbeiter der Einrichtung, die mit der REA begonnen hatten, bis der Rettungswagen eingetroffen war. Ich ignorierte das alles und stürmte in sein Zimmer, niemand hätte mich aufhalten können, es gab auch keinen Versuch das zu tun.

Der Leiter der Einrichtung lief mir hinterher und erklärte dem NA wer ich war. Dieser wollte mir eine Erklärung geben was er alles gemacht hat, aber das wollte ich gar nicht hören. Ich sah mein Kind und wusste, dass er gegangen war, dieses Bild möchte ich nicht beschreiben. Ich weiß es noch wie damals, ich hob meine Hände und sagte „Stopp!“. Ich fragte nach der Zeit, die der Doc schon reanimierte. Seine Antwort war eine Zeit in den vierziger Minuten, davor die REA der Einrichtung, die Zeit bis es entdeckt wurde, dass Andreas Notfall war. Da bin ich schon auf eine Zeit von einer guten Stunde gekommen. Das lief in meinen Gedanken ab, zu lange um Andreas da unbeschadet herauszuholen. Ich schaute dem Doc in die Augen und sagte, dass er die REA einstellen soll, der Schaden, wenn er weiterleben würde, wenn man ihn von irgendwo weither zurückholen würde ist größer, als wenn er jetzt in Frieden gehen kann.

Er nahm seine Hände von meinem Kind und erklärte Andreas für tot. Mein Mann und ich besprachen uns kurz, da wir nicht wollten, dass unsere Jüngste und meine Mutter durchs Telefon erfahren was geschehen ist, fuhr er nach Hause. Meine Große war inzwischen auf dem Weg und traf auch bald ein. Es ist nicht so, dass ich nur um mein Kind weinte, es tat mir auch so unendlich leid, meinen Mädchen sagen zu müssen, dass er gegangen ist. Ich bat darum, mit meinem Kind alleine zu sein. Alle haben das Zimmer verlassen.

Ich hatte dann noch ein Gespräch mit dem NA, er versicherte mir, dass er alles unternommen hatte, was möglich war. Danach ging es zuerst mal den Amtsgang weiter, der Doc übergab ihn der Feuerwehr, die rief die Polizei in Uniform, die kam dann und rief die Kripo, die kam dann, wollte von mir meine Personalien wissen, die ich nicht mehr wusste. Nein, ich war samt meiner Personalien leer, da war nichts. Das übernahm dann meine Tochter, wofür ich dankbar war.

Irgendwann, nachdem Andreas geholt worden war, fuhren wir nach Hause, zu meiner Kleinen, zu meiner Mutter. Es kamen Freunde, Freunde meiner Tochter, wir bestellten uns Pizza, Andreas mochte Pizza, gegessen wurde nicht viel.

Heute vor 23 Jahre ging meine Schwester, vor 20 Jahren mein Sohn und doch man vergisst das nicht, keine Minute, keine Sekunde. Irgendwann bin ich schlafen gegangen, vielleicht war es 22 Uhr, um 2 Uhr bin ich wieder wach geworden, es gab keine Faser in meinem Körper, der nicht schmerzte. An Schlaf war nicht zu denken, ich war wach, runter in die Küche und habe mir einen Kaffee gekocht. Ich habe mich leise bewegt, aber trotzdem kam, gerade als der Kaffee fertig war, meine Mama die Treppe heruntergeschlichen und so saßen wir da, tranken unseren Kaffee und erzählten.

Die Erinnerungen sterben komischerweise nicht, ob es mein Bruder, meine Schwester, meine Eltern oder Andreas betrifft, das klappt irgendwie nicht, diesen Rucksack legt man nicht ab, der lässt sich nicht in eine Ecke stellen, man muss es lernen ihn mitzunehmen, immer und überall hin.

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