Gerlinde hatte ihre ganz eigene Art an die Obduktion einer Leiche heran zu gehen. Wenn sie zu einem Leichenfund gerufen wurde, führte sie einige Rituale durch für die sie von ihren Kollegen stets belächelt wurde. Sie kontrollierte stets ihre Kamera, den Füllstand der Batterien, das Einlegen eines neuen Chips, ihr Koffer, dessen Inhalt eher dem der Spurensicherung glich. Alles musste an seinem Platz liegen, ihre Konzentration durfte nicht dadurch gestört werden, dass sie etwas suchen müsste. Sie fand sich in ihrem Koffer, aus dem niemals irgendwer sich etwas entnehmen durfte, blind zurecht. Sie wusste genau was wo und in welcher Menge vorhanden war. Sie verfügte zusätzlich über ein fotografisches Gedächtnis, das allerdings keine Aussagekraft. Von ihr wurden Beweise verlangt, handfeste Beweise, die nicht widerlegt werden konnten und die zum Täter führen konnten.

Die Gerichtsmedizinerin unterbrach das Diktat in das Mikrofon. Der Leichnam der Frau lag vor ihr. Sie stutzte. Irgendetwas kam der Gerichtsmedizinerin anders vor als sie es am Tatort gesehen hatte. Das war unmöglich, das konnte nicht wahr sein. Noch war sie sich nicht sicher, wusste nicht genau was es war. Aber dieses Gefühl  war da, das Gefühl, dass nichts so ist wie es am Tatort gewesen war. Was war es nur? Noch bevor sich daran machte, die Obduktion zu beginnen, holte sie ihren Fotoapparat hervor. Sie schaltete ihn ein drückte die Taste, die normalerweise die Bilder auf dem Display zeigten. Nichts. Kein Bild. Keine Aufnahme vom Tatort. Das war unmöglich. Sie nahm ihr Handy heraus mit dem sie die ersten Aufnahmen gemacht hat, gleich nachdem sie zum Tatort kamen. Das war ebenfalls eine Marotte von ihr, die von ihren Kollegen belächelt wurde. „Traust du wieder der Technik nicht?“ spotten sie manchmal über sie. Sie schloss das Handy an ihr Laptop an und überspielte die Bilder auf den Bildschirm. Angestrengt ging sie alle Bilder durch, jedes Detail. Als sie beim vorletzten Bild angekommen war, wurde ihr heiß und kalt. Der Täter musste am Tatort gewesen sein. Nur so war zu erklären, dass der einzige Beweis, den sie gesehen hatte und der Chip aus ihrer Kamera verschwunden war.

                                                                          *

Emmi kam langsam zu sich. Rasende Kopfschmerzen haben sie aus ihrem unfreiwilligen Schlaf gerissen. Sie versuchte sich zu bewegen, was ihr nicht gelang. Sie hörte Geräusche, die ihr fremd waren. Wo war sie? Was war passiert? Noch bevor sie ihre Augen öffnete wollte sie sich erinnern was geschehen war. Sie war losgelaufen, wollte wie immer joggen, bevor sie im Bierzelt ihre Arbeit aufnehmen wollte. Dann hat sie den Mann gesehen, wollte ihm helfen, weil sie gesehen hatte, dass er sich verletzt haben musste. Sie beugte sich hinunter, danach kann sie sich an nichts erinnern. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag! Sie war in der Hand des Frauenmörders, anders konnte das nicht sein. Panik ergriff sie, breitete sich in ihrem Körper aus. Ihr Puls ging schneller, ihr Kopfschmerzen verstärkten sich dadurch. Er ist hier, bestimmt ist er hier und beobachtet sie. Sie hob ihre Lider ein klein wenig an. Da stand er, drehte ihr den Rücken zu. Was tat er da? In diesem Moment erreichte sie der Duft von gebratenem Speck und sie spürte ihren Magen rebellieren.  Emmi schob all diese Gedanken von sich, ließ einzig dem Gedanken Raum, dass sie das überleben würde.

                                                                         *

Es war heiß, der Kommissar hatte sich entschlossen in sein Büro zu fahren. Dieser Sommer war so brütend heiß, er konnte sich nicht erinnern je einen so heißen Sommer erlebt zu haben. Aber alle erzählten davon, dass der Sommer damals 1976 noch sehr viel heißer gewesen war und es obendrein über sieben Wochen lang keinen einzigen Tropfen geregnet hatte. Der Schweiß bahnte sich in kleinen Rinnsalen den Weg über sein Gesicht. Selbst der Ventilator schaffte kaum Abhilfe. Er stand gelegentlich auf, ging an die Pinnwand von der aus die Bilder der Opfer anstarrten. So empfand er es, obwohl Bilder dazwischen hingen, von denen die Opfer ihn mit voller Lebensfreude anlachten. „Ich krieg dich, du Bastard! Ich werde ihn finden und hoffentlich bin ich dann alleine mit ihm!“.

Er wusste nicht wie oft er schon alle Daten miteinander verglichen hatte, immer wieder sowohl, die, die unter den Bildern erfasst waren, als auch die, die zum Abgleich penibel in eine fortlaufende Liste nebeneinander  geschrieben standen. Die hatten nichts miteinander zu tun. Der holt sich die wie es ihm passt. In seine Überlegungen hinein läutete das Telefon. Wer rief ihn am Sonntag hier an? Wer wusste, dass er hier war? Er hob den Hörer ab und hörte die aufgeregte Stimme seiner Schwester: „Sie ist nicht da, Herbert. Sie nicht da und sie ist nicht zum Dienst gekommen?“

„Mal langsam. Von wem sprichst Du?“

„Na Emmi. Sie ist nicht da, Herbert. Meine Emmi, auf die ich mich immer verlassen kann. Nicht da!“ schluchzte seine Schwester am anderen Ende der Leitung.

„Nun mal langsam Grete, du musst mir alles erzählen. Ich bin gleich da.“ Er griff nach seinem Autoschlüssel, prüfte ob seine Waffe im Halfter war, die Handschellen an ihrem Platz und ging los. „Nicht Emmi, vielleicht klärt sich das auf. Sie liegt bestimmt noch im Bett und hat verschlafen.“ Er wusste, dass das nicht der Fall sein würde.

Wenig später betrat er zusammen mit seiner Schwester die Wohnung seiner Nichte. Vorsichtig ging er mit Grete gemeinsam in das Schlafzimmer. Das Bett war leer, die Bettdecke zurück geschlagen. „Kannst du sehen was fehlt?“ fragte er seine Schwester, die als Antwort  nur nicken konnte, bevor Tränen der Angst über ihr Gesicht liefen. „Sie hat ihren Laufdress an. Der hing gestern noch hier.“ Ihr Finger zeigte in die Richtung des kleinen Wäscheständers im Bad. „Da hingen ihre Jogginghose und ihr Shirt, ich hab’s gestern gewaschen und da hingehängt.“

Dem Kommissar war ganz flau im Magen. Nicht Emmi, nicht seine Nichte. Es war so schon schlimm genug zu einem Tatort gerufen zu werden, aber das? Nein, das bitte nicht, er wollte nicht den Obduktionsbericht seiner eigenen Nichte lesen. Er beruhigte seine Schwester so gut es ging und brachte sie nach Hause. „Du wirst sehen, Emmi hat vielleicht gar nicht zu Hause übernachtet. Ich werde ihr gehörig den Kopf waschen, wenn sie auftaucht.“

                                                                        *

Gerlinde sicherte die Datei auf ihrem Laptop. Ein Gefühl ließ sie die Bilder ihres Handys auf ihren eigenen Laptop, den sie immer dabei hatte, laden. Nicht auf den Computer der Gerichtsmedizin. . Sie war gerade dabei die Akte auf dem Computer anzulegen als ihr Assistent den Raum betrat: „Morgen Gerlinde, schöne Scheiße das da.“ Begrüßte er seine Chefin mit Fingerzeig auf die Tote. Gerlinde nickte, trat an den Tisch, richtete das Mikrofon, das sie vorhin achtlos zur Seite geschoben hatte und begann: „Sonntag, der ….

                                                                           *

Emmi war sich sicher, dass sie alleine war. Sie hört außer leiser Musik keine weiteren Geräusche mehr. Nun konnte sie in Ruhe den Raum inspizieren. Das war kein Kellerraum, denn es drang Tageslicht in den Raum. Merkwürdig sah das hier aus. Es sah aus wie in einem Krankenhaus. Sie schüttelte den Kopf, dafür war es zu schmuddelig und was hätte sie in einem Krankenhaus tun sollen. Sie sah Schränke aus Holz, einen Tisch in der Mitte des Raumes auf dem… oh mein Gott, lass‘ es nicht wahr sein. In ihrer Verzweiflung schloss sie ihre Augen, öffnete sie wieder uns sah kein anderes Bild. Sie rief leise „Hallo?“. Keine Antwort. Ob sie…nein, bestimmt nicht und noch ein Mal: „Hallo?“. Abermals nichts. Er war nicht da, da war sie sich sicher. Emmi bewegte sich. Ihre Hände waren auf dem Rücken zusammen gebunden, ihre Füße am Boden angekettet. Das würde schwer werden sich zu befreien, aber nicht unmöglich. Während sie den Versuch startete sich zu befreien, spielte im Radio leise das Lied „Immer wieder sonntags …“.