Es ist einige Zeit schon her, dass ich hier über die Demenz meiner Schwiegermutter geschrieben habe. Unaufhaltsam schreitet der geistige Verfall voran, wobei sie körperlich mit ihren 87 Jahren dem einen oder anderen unserer Familie durchaus noch etwas vormachen kann. Medikamente mögen bei dieser Krankheit für eine kleine Weile den Prozess aufhalten, aber über die Deadline des Aufhaltens scheinen wir schon gegangen zu sein. Es sind manchmal nur Kleinigkeiten an denen man das Voranschreiten feststellen kann.

Wir hatten den medizinischen Dienst hier, darüber hatte ich berichtet, wir waren beim Neurologen, beim MRT, auf beide Termine mussten wir drei Monate warten. Wozu? Laut Auskunft der Praxis, weil man heute wegen jedem Mist, für den auch eine Röntgenaufnahme reichen würde, ein MRT haben will. Nach der Aufnahme dauerte dann die Beurteilung auch noch mal gut zwei Wochen. Danach wieder einen Termin beim Neurologen mit dem Ergebnis es ist wie es eben ist. Das wussten wir auch, aber nun mit dem ruhigen Gewissen alles unternommen zu haben, was zu unternehmen war. Was mich bei unserem Ärztelauf aber unglaublich ärgert sind die Wartezeiten. Glauben Ärzte wirklich, dass es das Non Plus Ultra ist in einem Wartezimmer zu sitzen? Glauben die Leute wirklich man hat sonst nix zu tun? Es geht dabei nicht um mal 5 Minuten oder zehn oder fünfzehn Minuten zu warten, wir reden von einer Wartezeit von über 1 Stunde und das in einer Praxis, in die wohl eher selten ein Notfall kommt. Und wir haben beim ersten Termin auch so lange gewartet. Das scheint in dieser Praxis immer so zu sein. Ich weiß nicht wie viele Stunden ich schon in einem Wartezimmer verbracht habe. Beim Kinderarzt, mit Andreas manchmal stundenlang in der Poliklinik, dann auch noch beim Kinderarzt mit seinen Schwestern natürlich auch, nun also auch mit meiner Schwiegermutter. Würden wir für die Wartezeiten bei Ärzten Stundenlohn bekommen, da wäre schon eine ordentliche Summe herausgekommen. Schätze mal ich wäre stolze Besitzerin eines guten Mittelklassewagens.

Zurück zu unserem Alltag. Auf all das womit sie uns den lieben langen Tag beschäftigt, einzugehen, das mag ich nicht, das würde für mich die Grenze ihres Persönlichkeitsrechtes überschreiten, käme einem Verrat an ihr gleich. Nur so viel sei gesagt, manchmal ist es durchaus lustig, meistens aber eben nicht mehr. Die Unbeschwertheit mit der wir an diese Aufgabenstellung heran gegangen sind, ist inzwischen gegangen. Weg, fort, ausgezogen!

Es macht mich traurig, manchmal fast schon hilflos, dass es so gar keinen Stop in der Krankheit gibt bzw. in den letzten Wochen gab, dass trotz aller Behandlung, die sie schon eine ganze Weile hat, die Demenz einfach weiter voranschreitet. Diese Krankheit fragt nicht danach, ob der Erkrankte oder wir eine kleine Verschnaufpause brauchen, ob wir über ein paar Wochen oder Monate einen Stillstand verdient haben. Es ist nicht so, dass die Rückschritte sich tagtäglich zeigen, das bemerkt man nur, wenn man sehr genau hinschaut und für diejenigen, die sie eher selten sehen, scheint die Veränderung nicht ganz so dramatisch zu sein. Ich hatte immer schon den Eindruck, dass an Demenz erkrankte Menschen ein hohes Potential haben sich zusammen reißen zu können, wenn Menschen da sind, die sie wohl irgendwoher kennen, aber dennoch fremd geworden sind. Alle Menschen, die kommen sind dann fremd, auch wenn sie zur Familie gehören, denn wenn diese wieder weggegangen sind, kommt die unweigerliche Frage wer das nun gewesen sei. Das war ein netter junger Mann, eine nette junge Frau, aber wer war das nur gewesen?

 Es ist für mich ein unangenehmer Gedanke, dass sie an manchen Tagen so gar nichts mit mir anzufangen weiß, weder wer ich bin, noch wie ich heiße, noch in welcher Beziehung ich zu ihr stehe. Ich mag mir nicht vorstellen wollen wie dieses Gefühl ist, sich beim besten Willen nicht mehr zu erinnern, wer der Mensch da ist, der da vor einem steht, mich ganz selbstverständlich mit „Du“ anspricht, während ich denjenigen mal sieze und mal duze und so gar nicht weiß aus welcher Schublade ich nun seinen Namen oder die Beziehung zu mir hervorzaubern soll. Nein, ich will mir das nicht vorstellen.

Sie ist nicht renitent. Ich glaube, ich käme mit etwas mehr Renitenz besser zurecht, als mit der ihr eigenen unterwürfigen Ergebenheit, kombiniert mit einigen sturen Momenten, die sie natürlich wie jeder andere Mensch, der an dieser Krankheit erkrankt ist, auch hat. Allerdings und ich denke da sind alle von dieser Erkrankung betroffenen Menschen gleich, neigt sie dazu zu schwindeln, wobei das eher Schutzbehauptungen als Schwindeleien sind, wenn z.B. das Portemonnaie verschwunden ist, was es regelmäßig tut, dann war sie es ganz sicher nicht, sondern … ja wer? Ach wenn ihr da niemand einfällt, dann hatte sie eben seit Wochen gar keinen Portemonnaie, bzw. noch nie einen besessen.

Wer meine HP besucht und gleich auf der ersten Seite das Cover meines Buches sieht, der weiß, dass ich ein Buch über meinen behinderten Sohn geschrieben habe. Angesichts dieser Erfahrung und all der Erfahrungen, die ich in meinem Leben schon mit dementen Menschen machen konnte und auch musste, dachte ich, das lässt sich alles irgendwie regeln. Klar tut es das, aber es sind einfach zwei Paar verschiedene Schuhe. Mein Sohn, das war mit Ballerinas über das Parkett schweben, das mit meiner Schwiegermutter gleicht eher dem Versuch mit Gummistiefeln an den Füssen auf gleichem Parkett graziös einen Wiener Walzer tanzen zu wollen. Mein Sohn, das war eben mein Kind, auch wenn es manchmal nicht einfach war, so war er lernfähig und hat immer etwas gelernt, auch wenn es je älter er wurde immer weniger war, aber er hat gelernt, es war Fortschritt. Dinge, die er gesucht hat, die hat er auch gefunden, mal abgesehen davon hat er einfach selten etwas verlegt. Seinen Schwerbehindertenausweis, den haben wir ab und zu mal gesucht, aber er immer der gewesen, der ihn dann auch gefunden hat.

Meine Schwiegermutter, da ist keine Erinnerung wo das Portemonnaie geblieben ist, wo es sein könnte, da ist keine Idee mehr wieso man es immer an die gleiche Stelle legt, nur verständnisloses Anschauen. Da ist keine Idee, warum man was wie tut, egal in welchem Bereich. Da ist die sofortige Bereitschaft gleich den Worst Case anzunehmen, vollkommen egal in welchem Moment das auch ist, egal ob wir einkaufen gehen, oder wie vor zwei Tagen, als wir uns, gemeinsam mit ihr, eine Tagesstätte angeschaut haben, in die sie an einem oder manchmal auch zwei Tagen in der Woche künftig gehen soll. Sie dachte sofort daran, dass wir sie abschieben wollen, ich dachte nur daran einen Tag in der Woche für mich alleine zu haben. Ein Tag, an dem ich tun und lassen kann was ich möchte. Wir teilen uns die Betreuung hier auf, das klappt ganz gut, aber es ist trotzdem etwas vollkommen anderes sie versorgt zu wissen, ihrer Demenz gemäß betreut, aber auch gefordert zu wissen. Das sind Bereiche, die wir nicht leisten können.

Meine Ballerinas wurden angetrieben von den Fortschritten, die Andreas gemacht hat, die Gummistiefel werden gebremst von den dauernden Rückschritten, die meine Schwiegermutter leider macht. Sie kann nichts dafür, aber dieses Wissen macht es nicht unbedingt leichter. Interessant ist, dass sie und auch da wird sie anderen Erkrankten ähnlich sein, sich über eine ganze Weile retten kann, wenn jemand zu Besuch kommt, den sie selten sieht. Diese Menschen neigen dann dazu anzunehmen, dass wir eine Klatsche haben, wenn wir dann mal die eine oder andere Begebenheit erzählen, ergo tun wir das nicht mehr, da man uns das ohnehin nicht glaubt.

Gerne würde ich jetzt die Ballerinas tragen, sie würden alles einfacher machen, aber die Gummistiefel sind hartnäckige Gesellen und nicht leicht abzustreifen. Aber wer weiß, vielleicht bin ich irgendwann mal darüber froh, dass ich in Gummistiefeln getanzt habe.