Wie fühlt es sich an?
Wie ist es blind zu sein? Natürlich wird man es nicht wissen, wenn man sich die Augen verbindet und so tut als ob, aber man bekommt eine kleine Idee davon. Ebenso kann man ausprobieren wie sich anfühlen könnte taub zu sein. Natürlich möchte ich nicht tauschen, keine Frage, aber so eine minikleine Vorstellung kann ich mir schon machen. Aber kann man sich vorstellen wie es ist dement zu sein oder zu werden? Natürlich suche ich auch ab und zu etwas. Wer kennt sie nicht diese Momente in denen man ganz gezielt in einen Schrank, ein Fach greift, weil man sich 100 % sicher ist, das Gesuchte hier zu finden. Man sieht sich noch es genau dort hingelegt zu haben, aber es ist nicht da. Also wird man anfangen zu suchen und dann den unmöglichsten Platz aller Plätze ausmachen wo man fündig wird. Aber kann man das dem gleich setzen, dass man mehr und mehr vergisst, kann man sich das vorstellen, sich in diese Menschen hineinversetzen?
Vor allem sich an Menschen nicht erinnern können, wie furchtbar ist das? Natürlich gibt es Menschen an die will man sich nicht erinnern, muss man sich auch nicht erinnern können, aber Menschen die nahe stehen, die man sein Leben lang in welcher Form auch immer begleitet hat, nicht mehr kennen? Ich stelle mir das grauenvoll vor mich an meine Kinder nicht mehr erinnern zu können, wenn es auch hier ganz sicher Zeiten gibt, die man gerne aus seinem Gedächtnis löscht, was umgekehrt genauso Gültigkeit hat. Ich bin nicht die Übermutter und meine Kinder sind nicht die Überkinder, keiner von uns muss das sein. Aber so gar nicht wissen, dass meine Tochter meine Tochter ist? Nein, das will ich mir lieber nicht vorstellen.
Nach einigen Wochen des Kennens lebt meine Schwiegermutter gerade wieder einige Tage des Nichtkennes. Sie kennt mich zur Zeit nicht, weiß nicht wer ich bin und in welchem Verhältnis ich zu ihr stehe. Das unverkennbare Zeichen dessen ist, dass sie mich zeitweise mit „Chefin“, selten mit meinem Namen anspricht. Sie erzählt mir also am Montag, was sie am Tag zuvor unternommen hatte, dass sie beim Freund der Enkelin zum Geburtstag war, sogar dessen Alter wußte sie noch, aber nicht wer ich bin und dass ich auch dort war. Sie erzählte, dass da einer wohnt, der die Polizei holt, wenn mal gefeiert wird, das hatte sie auch schon am Sonntag derart beschäftigt, dass sie es immer und immer wieder als Thema aufgriffen hatte, noch als wir da waren. Immer wieder kam sie darauf zurück, dass jener Nachbar nun die Polizei rufen könnte. Erst als ich ihr erklärte, dass beim letzten Geburtstag die Polizei in der Nacht, kurz nach 22 Uhr da war, beruhigte sie. Dennoch erzählte sie mir am Tag danach davon, als sei ich eine Fremde, die nicht dabei gewesen war.
Ein weiteres Indiz ist dann ihr unglaubliche Unruhe. Sie ist unruhig, sucht permanent zum Beispiel ihren Portemonnaie, den sie von A nach B und dann nach C legt, um ihn dann schließlich nicht mehr findet. Es spielt dann auch keine Rolle mehr, dass wir gemeinsam dafür einen festen Platz ausgemacht hatten. Was treibt ein Mensch dazu morgens um 5 Uhr als allererste Amtshandlung nach seinem Portemonnaie zu suchen? Ich weiß es nicht. Gerne würde ich manchmal ihre Gedanken lesen können, um zu wissen wo sie gerade ist, was sie denkt, was sie fühlt, woran es ihr mangelt, was sie gerne hätte.
Ich kann natürlich nicht nachempfinden wie es einem blinden Mensch im Alltag ergeht, kann es allenfalls ahnen, wenn ich mir mal für einige Zeit die Augen verbinde, auch die ewige Stille gehörloser Menschen kann ich nicht dauerhaft erklären, allenfalls den Hauch eines Gefühls bekommen. Was mir aber völlig abgeht ist mich in einen Menschen hinein versetzen, der mehr und mehr seine Gedächtnisleistung verliert, einfachste Dinge verlernt, die er tausende Male in seinem Leben gemacht hat und das vor allem auch noch ab und zu bemerkt, dann hilflos vor mir steht und mich fragt was mit ihm los sei. Da kann ich mich nicht hinein denken, das weder erfühlen, noch ausprobieren und ich wünsche mir es nie zu erfahren.