Sie kam schleichend, machte sich vor Jahren schon bemerkbar, nahm mehr und mehr Raum ein. „Sie hört nur schlecht.“ Sagte die Familie auf meine Bemerkungen hin „ein Hörgerät und es wird besser werden, du wirst sehen.“ Das Hörgerät nutzte nicht viel, die Demenz kam trotzdem, nach und nach, mehr und mehr, unaufhaltsam.  Vielleicht wird sie durch Medikamente noch etwas aufzuhalten sein, aber stoppen kann man sie sicher nicht mehr.

Als Angehörige fühlt man sich machtlos, wenn man Hunderte von Kilometern entfernt ist von dem, in diesem Fall der Betroffenen. Was soll man machen? Was wenn der Sohn das einzige Kind ist? Was wenn der Zustand so ist, dass die Erkrankte sich einbildet, dass wer auch immer in ihre Wohnung gehen kann, ihre Sachen stiehlt oder einfach an andere Stellen packt? Wenn sie Angst in ihrer eigenen Wohnung hat, an der Tür des ehemaligen Kinderzimmers ihres Sohnes anklopft, weil sie glaubt, dass da nun eine fremde Frau wohnen würde? Man wohnt so weit weg, kann nicht eben mal um die Ecke gehen, nach dem Rechten schauen. Dabei ist meine Schwiegermutter ist eine sehr rüstige, agile Frau im Alter von 86, die fast täglich das Haus verlassen hat um einzukaufen und ihre Schwester täglich zu sehen. Diese ist inzwischen schon 92 Jahre alt und kränklich, könnte ihre Schwester nicht versorgen. Dennoch als die Lage sich zuspitzt entschließen wir uns meine Schwiegermutter zu holen.

Es war fast eine Nacht- und Nebelaktion gewesen, als wir sie geholt haben. Ich war in der Hälfte des Weges, wusste sie bei ihrer Schwester und deren Tochter, der Cousine meines Mannes. Ich war überrascht, dass sie nicht eine einzige Sekunde lang gezögert hatte, mit uns, meiner jüngsten Tochter und mir, mitzukommen. An diesem Abend, lachte sie und strahlte mit dem Mond am Himmel um die Wette. Ich erlebte es, dass sie die Tür zum Schlafzimmer, in dem wir beide schliefen, abschließen wollte. Es gelang mir sie zu überzeugen, dass in dieser Nacht niemand kommen würde und doch sah ich wie sie etwa um 1 Uhr in der Nacht umher gegeistert war und für ihre Handtasche ein sicheres Versteck gesucht hat. Am nächsten Morgen packten wir ein, was wir in die Koffer bekamen, luden da Auto voll mit dem was wichtig war. Sie ist freiwillig mitgegangen, hat aber sicher geahnt, dass sie ihre Wohnung für immer verlassen würde.

Vor Jahren sind wir aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen. Von jungen Menschen wird heute ein hohes Maß an Mobilität gefordert, wenn in der Stadt A keine Arbeit ist, dann muss man eben in die Stadt B ziehen. Das wird immer mehr Menschen im Alter zum Verhängnis werden, weil auch sie irgendwann einmal gezwungen sein könnten ihr Lebensumfeld in dem sie Jahrzehntelang gelebt haben verlassen müssen, wenn Familie, Freunde und Bekannte gestorben sind, wenn ihr soziales Umfeld zusammengebrochen ist. So war es bei meiner Mutter. Ich meine das ist ein unterschätztes Problem, das in den nächsten Jahren auf jene zukommen wird, deren Kinder aus beruflichen Gründen zu Nomaden geworden sind. Irgendwann, wenn die Eltern alt und vielleicht krank sind, wenn deren soziales Umfeld sich verändert hat, werden auch sie vor der Frage stehen was nun?

Da wir in diesem Moment selbst keinen Platz in unserer Wohnung hatten, fragten wir meine Mutter, die im Jahr davor nach Berlin gezogen war, ob wir Fine zu bringen könnten. Sie willigte sofort ein, die Frauen waren schon zu Lebzeiten meines Vaters befreundet. Mein erster Impuls war eine Einrichtung für sie zu suchen, aber dann sah ich sie dort vor meinen Augen regelrecht verkümmern und das wollte ich nicht, das wollte meine Familie nicht. Wir glauben, dass der Zeitpunkt noch nicht für sie gekommen ist in einer Einrichtung zu leben.

Auf der anderen Seite erlauben es unsere Berufe sie zu Hause zu versorgen und wie es der Zufall so will, ist der Freund meiner großen Tochter ausgebildeter Krankenpfleger. Wir fällten gemeinsam die Entscheidung, sie zu uns zu nehmen. Dazu aber bedurfte es einer größeren Wohnung, die folgende Bedingungen haben musste: sie musste groß genug sein, dass unsere jüngste Tochter ihr Zimmer hat, meine Große lebt inzwischen mit ihrem Freund zusammen, dass meine Schwiegermutter ihr Zimmer hat, wir, mein Mann und ich, natürlich auch unser Reich haben, ein gemeinsames Wohnzimmer und ein Büro, das gleichzeitig Gästezimmer ist und in dem mehr oder weniger oft meine Mutter übernachten kann. Ach ja und im 1. Stockwerk sollte sie liegen, höher ist nicht, mein Mann und ich werden ja auch langsam aber sicher älter. Das fast Wichtigste zum Schluss: die Wohnung sollte zwei Toiletten haben, irgendwie muss man bei zwei älteren Damen, die fast zeitgleich mit dem Genuss einer Tasse Kaffee den Gang zur Toilette antreten, wenigstens eine minimale Chance haben, schneller als sie und der Kaffee zu sein und eine freie Toilette zu erwischen.

Ich war so naiv zu glauben, dass eine solche Wohnung, logischerweise zu einem erschwinglichen Preis, einfach und bald zu finden sein würde. Die erste Wohnung gleich hatte mir gefallen: Altbau zwar, große, hohe Räume, eine kleine Küche, aber es würde ein kleiner Tisch hineinpassen, an dem die beiden Omas sitzen könnten. Wir hielten Familienrat, eine Entscheidung die Wohnung zu nehmen schien keine Eile zu haben, da sie schon eine ganze Weile leergestanden hatte. Am Tage bevor ich bei der Verwaltung angerufen habe, war die Wohnung an Menschen vermietet worden, die einfach kamen, sich die Wohnung ansahen und sie mieteten. Ich war so wütend, war so enttäuscht, aber selbst ein witziger Bestechungsversuch brachte kein anderes Ergebnis. Meine große Tochter tröstete mich, dass wir bestimmt eine schönere Wohnung finden würden.

Wir haben also weiter gesucht, Wohnungen besichtigt, die alle irgendeinen Haken hatten und auch solche, die in einem Zustand angeboten wurden, der jeder Beschreibung einer Wohnung gespottet hat. So viele Mieten wie eine Renovierung gekostet hätte, hätte der Vermieter uns niemals nachlassen können. Vor allem frage ich mich wieso nicht automatisch ein Grundriss, vor allem bei virtuellem Anbieten, im Internet eingestellt wird. Überhaupt das virtuelle Anbieten will, wie mir scheint, auch gelernt sein. Was interessiert mich das Bild eines geradezu antiken anmutenden Türknaufes, wenn ich wissen möchte wie der Rest der Wohnung aussieht? Wir haben uns oft gefragt was sich die Anbieter solcher Wohnungen dabei denken, wenn sie ihre Wohnungen als Angebot einstellen. Die Wohnungen, die uns den Bildern nach sofort gefallen haben waren dann entweder zu teuer oder lagen höher als das 1. Stockwerk und waren dann ohne Aufzug.

Es hat länger gedauert als ich angenommen habe, aber wir haben schließlich unsere Wohnung doch noch gefunden. Sie liegt im 4. Stock einer wunderschönen Anlage, gleich um die Ecke der Spandau-Arcaden. In den Augen meiner Schwiegermutter kann es besser nicht sein, sie fühlt sich am wohlsten, wenn sie jeden Tag mindestens ein Mal, nein besser zwei Mal das Haus verlassen kann. Ein Aufzug bringt uns nach oben, der eine Macke hat: man muss sich beeilen rein- oder rauszukommen, was vor allem für unsere beiden Omas jedes Mal fast zu einem Abenteuer ausartet: meine Mutter, die größere der beiden schafft das einigermaßen lässig, manchmal jedenfalls, während die kleine Oma, meine Schwiegermutter regelrecht Anlauf nehmen muss und dabei enorm beschleunigt. Ihr merkt man an, dass sie sich richtig darauf konzentrieren muss, loszulaufen, wenn die Tür sich öffnet.

 Unser Umzug ist soweit fast erledigt, aber eben nur fast und vergangenes Wochenende sind in das Restchaos die Möbel und Kartons meiner Schwiegermutter angekommen, was das Restchaos in ein erneutes wahres Chaos gestürzt hat. Ihre Wohnung müssen wir ja ebenfalls auflösen.  Ab morgen wird sie hier wohnen, ihre Schränke muss sie sich selbst einräume, mit unserer Unterstützung natürlich, keine Frage. Das was ihr an Küchenutensilien hoch und heilig ist, wie z.B. ihr eigenes Besteck, hat schon seinen Platz in einer Schublade, zwei ihrer Kaffeeservice, zwei Essservice, sowie ein Teil ihrer Töpfe haben ihren Platz bereits gefunden.

Nur sie fehlt nun noch und morgen wird es soweit sein, dass sie bei uns einziehen wird.