Die ersten Tage
Die ersten Tage
Es sind erst einige Tage, die meine Schwiegermutter und wir zusammen leben. Natürlich ist es eine Umstellung für sie und auch für uns, dabei ist es aber im Moment sehr hilfreich, dass sie noch damit beschäftigt ist, ihre persönlichen Sachen un dGegenstände zu ordnen, die mein Mann ihr gebracht hat. Zu allem Ungemach, die ihre Krankheit mit sich bringt, hört sie nicht gut, um nicht zu sagen sie hört schlecht. Die Hörgeräte, die sie hat, brauche sie gar nicht, sagt sie. Sie würde jedes Wort verstehen. Logisch, weil wir nach dem ersten und zweiten Nichtreagieren oder unverstandenen Nachfragen dazu übergegangen sind zu schreien, wenn wir mit ihr reden. Inzwischen schreien wir auch, wenn sie im Raum ist und wir uns einfach nur unterhalten. Wir schreien also mehr oder weniger nur noch. Das kann so aber nicht sein, also werde ich das Hörgerät wenigstens für das rechte Ohr aktivieren und sie überzeugen es zu tragen. Das ist nicht einfach, denn ein Hörgerät findet deutlich weniger Akzeptanz als eine Brille und das nicht nur bei ihr, das scheint allgemein so zu sein. Jeder weiß wie anstrengend es ist sich mit Menschen zu unterhalten, die schlecht hören, dies mit einem Hörgerät locker ausgleichen könnten, es aber nicht tun.
Meine Schwiegermutter ist ja nun schon einige Wochen in Berlin, hat diese Wochen bis wir unsere neue Wohnung gefunden haben, bei meiner Mutter verbracht. Beide Frauen hat über lange Jahre eine enge Freundschaft verbunden, die durch die eingetretene Demenz meiner Schwiegermutter leichten Schaden erlitten hat. Wir, die nächste Generation, haben schon Probleme zu verstehen wie sehr ein Mensch sich durch diese Krankheit verändert. Um wie viel schwieriger ist es für einen Menschen, der im gleichen Alter ist? Da schleicht sich die Angst ein auch „so“ zu werden. Das mitzuerleben ist schmerzlich. Aber mal ehrlich ich will so auch nicht alt werden. Bei allen Witzen, die man über Alzheimer & Co. reißt, so schnell, dass der Betroffene nicht bemerkt, dass etwas nicht mehr richtig läuft, geht es leider nicht. Ich merke meiner Schwiegermutter an, dass sie manchmal recht verzweifelt ist, wenn sie wieder etwas sucht, das sie selbst im Schrank untergebracht, hier geradezu versteckt hat und das ich mit einem Handgriff finde. Ein schräges Lächeln, ein „wie kann ich das nur vergessen haben“, danach starre Blicke ins Leere, Grübeln über das Geschehene, die unausgesprochene Frage, ob sie verrückt werden würde. Nein, so will ich nicht alt werden.
Übrigens hat sie immer sehr ausgewogen gelebt, nie Fast Food gegessen, hat sich in letzten gut zwanzig Jahre mehr als überaus gesund und ausgewogen ernährt, hat nicht geraucht, nicht getrunken, nicht im Übermaß gelebt. Sie hat sich alle möglichen Kapseln, Pillen und Nahrungsergänzungsmittel für bessere Gedächtnisleistungen, als Vorbeugung gegen Demenz, für körperliche Leistungsfähigkeit auch im Alter für sehr viel Geld andrehen lassen. Das alles hat es nicht verhindern können, hat nichts genutzt, außer vielleicht, dass der Fall ein paar Jahre später eingetreten ist, oder überhaupt eintreten konnte, weil sie nun ordentlich alt an Jahren geworden ist. So frage ich mich, ob es wirklich so viel Sinn macht gesund zu leben, nicht das Leben im Übermaß zu genießen, zu rauchen und zu trinken, üppig zu leben und ob das Geld, das man für all die Mittelchen ausgeben würde, so nicht besser angelegt ist. Ich möchte es selbst nicht erleben diese Krankheit zu bekommen, auch wenn ich zu meinen Töchtern immer wieder sage es sei mir egal.
Auch wenn es immer mal lustige Begebenheiten gibt, finde ich es schmerzlich wie sehr ihre Persönlichkeit, ihre Gedächtnisleistung sich verändert hat. Was früher selbstverständlich war existiert heute nicht mehr. Was früher überhaupt kein Problem für sie war, stellt heute ein unüberwindliches Hindernis dar. Kommt dann noch das Erkennen dazu, dass sie dieses oder jenes nicht einfach tun kann, dann versinkt sie in eine Starre, eine Leere. Während dieser Momente kann man zuschauen wie sie abbaut. Der Tag ist dann einfach gelaufen.
Sie hat wie viele Betroffene im Augenblick noch diesen Drang rausgehen zu wollen. Danach hat sie ihren Alltag gestaltet. Dass wir als Familie einen einzigen wöchentlichen Einkauf machen und danach nur noch das dazu kaufen, was wir unbedingt brauchen, kann sie nur sehr schwer nachvollziehen. Die Erkenntnis, dass sie gar nicht alleine einkaufen gehen kann traf sie nun wie ein Blitz. Wir wollen sie nicht alleine ziehen lassen, weil wir, mein Mann und ich, im Augenblick daran zweifeln, dass sie es wirklich schaffen könnte alleine einkaufen zu gehen und dann auch wieder nach Hause zu finden, auch wenn wir es über Wochen mit ihr üben würden. Was aber, wenn sie unterwegs ist und sie sich nicht mehr orientieren kann? Wenn sie sich umschaut, nichts erkennt das ihr vertraut ist? Würde sie dann umher irren, gar in Panik ausbrechen? Es gibt keine Garantie mehr, dass ein begonnener guter Tag ein guter Tag bleibt, der ihr eine sichere Rückkehr geradezu garantiert. In Berlin ist alles größer als dort, wo sie ihr ganzes Leben lang gelebt hat. Wir, mein Mann und ich, würden sie gerne ziehen lassen, ihren Freiheitsdrang alleine ausleben lassen, aber dann stellen wir uns vor, dass sie irgendwo steht, nicht mehr weiß wo sie ist, umher irrt, panisch wird und sind der Meinung, dass sie das so nicht erleben muss.
Ich persönlich finde es sehr traurig wie ein Mensch sich unter dieser Krankheit verändert, in seinem Wesen, seiner Ausdrucksweise, Sprache und auch Verhalten. Begebenheiten über die sie früher gelacht hätte, machen sie heute überaus launisch. Missverständnisse sind schwer zu vermeiden und wenn sie da sind, schwer auszuräumen. Natürlich kommen Missverständnisse in allen Lebenslagen und in jedem Alter vor und je nach Lebensumständen ist man in der Lage sie mehr oder weniger leicht auszuräumen. In einer Demenz scheint das ähnlich wie in einer Pubertät am schwierigsten zu sein. Sie brummelt dann vor sich hin, spricht kein Wort, starrt auf einen Punkt. Man muss schon mehrmals nachfragen, um den Grund heraus zu finden.
Ich erlebe gerade meine Mutter und meine Schwiegermutter, zwei Frauen, die auf verschiedene Art und Weise alt geworden sind und die auch auf verschiede Art und Weise alt sind. Ich will nicht werden wie die Eine, aber auch nicht wie die Andere. Ich überlege gerade, ob ich mir einen ausführlichen Brief schreiben soll ,in dem ich mich dann selbst daran erinnere, dass ich nicht so werden wollte. Gut eine Demenz ließe sich schlecht beeinflussen, aber das spielt einfach keine Rolle. Diesen Brief würde ich sowohl ausdrucken als auch auf Memory-Sticks laden, beides dann meinen beiden Töchtern zur Aufbewahrung mit der Bitte geben, mir meinen Brief dann auszuhändigen, wenn ich mich in meiner Art zu sehr einer ihrer beiden Omas nähere, egal welcher. Hoffentlich hilft das.