Immer noch geht es weiter voran. Es ist immer noch faszinierend und erschreckend zugleich zu sehen, was aus einem Mensch in einer Demenz wird. Ein Mensch wird es immer bleiben,  daran besteht für mich kein Zweifel, aber irgendwie wird er auf Minimales reduziert. Er wird nur noch auf Bedürfnisse reduziert sein, bis diese dann schließlich auch nicht mehr existieren.

Es ist schwer in Worte zu fassen wie sehr diese Krankheit die Menschen verändert. Wichtiges sinnlos erscheinen lässt und nur in seltenen Momenten keimt die Wichtigkeit frühere Prioritäten auf, um gleich wieder im Nichts zu verschwinden. Meine Schwiegermutter war eine sehr gepflegte Frau, stets darauf bedacht gut gekleidet zu sein, immer gut sitzende Haare zu haben und den Luxus Altersflecken entfernen zu lassen, leistete sie sich regelmäßig. Auch leistete sie sich, gemeinsam mit ihren Schwestern teure Medikamente und Mittelchen, die alle versprachen, dass sie in Wohlgefallen und bei guter geistiger und körperlicher Gesundheit alt werden würden.

Alt sind sie alle drei geworden, das wären sie aber ohne diese Mittelchen geworden. Die erste der drei Schwestern starb vor einigen Jahren an Leukämie, die zweite vor wenigen Wochen an ihrem Alter mit über 92 Jahren, aber erkrankt an Demenz und einigem anderen. Die dritte, das ist meine Schwiegermutter, erkrankt an Demenz. Nun ja viel geholfen haben diese Mittelchen nicht. Alt wären sie auch so geworden und ihre Demenz hat das auch nicht verhindert. Außer Spesen, das hat ein Schweinegeld immer gekostet, nichts gewesen. Natürlich kann nun der Vertriebler dieser Mittelchen sagen, dass ohne dieselben ja vielleicht alles ganz anders gekommen wäre. Quod errat demonstrantum … was zu beweisen wäre. Ich weiß es nicht, das weiß niemand. Vielleicht wäre es manchmal besser nicht so alt zu werden.

Vor kurzem war ich in meiner alten Heimat. Der Anlaß war ein trauriger, die Trauerfeier für die Schwester meiner Schwiegermutter, zu der sie selbst nicht fahren konnte. Dabei haben wir, die Tochter der Schwester und ich, versucht die Anfänge der Demenz bei meiner Schwiegermutter zu finden. Ein wenig ist uns das gelungen, Begebenheiten zu finden, die man durchaus mit einer beginnenden Demenz in Zusammenhang zu bringen. Ganz vorsichtig und ohne die Garantie auf Richtigkeit. Die Anfänge liegen demnach schon viele Jahre zurück.

Inzwischen sind viele Jahre vergangen und  jetzt erleben wir nachts ab und zu, dass sie irgendwo auf dem Fußboden liegt und schläft, aber immer auf ihrem Deckbett. Oder sie räumt und ordnet und wir finden am nächsten Morgen nichts mehr dort, wo wir es am Abend verlassen haben. Also heißt es am Morgen immer erst einmal Schadensbegrenzung, kontrollieren, dass alles in Ordnung ist. Vor dem ganz großen Chaos sind wir bislang verschont geblieben.

Es ist für Menschen, die mal eben vorbei kommen und für die sie alle Reserven mobilisiert einen normalen Eindruck zu hinterlassen, nicht zu verstehen, dass uns auch mal die Nerven durchgehen können und ich nicht mehr lachen kann, wenn ich zum Beispiel, das fünfte Mal die Marmelade in der Butterschachtel auf der Butter anstatt auf ihrem Brötchen finde. Natürlich ich könnte ihr Brötchen auch fix und fertig zubereiten, aber was gewinne ich dadurch? Was gewinnt sie dadurch? Nichts, weil es einen Schritt mehr rückwärts bedeuten würde. Oder man kann auch mal die Nerven verlieren, wenn man das 100ste Mal etwas sagen muss, weil die Hörgeräte unauffindbar versteckt worden sind. Oder man kann auch mal abgenervt sein, weil man einen höchst unangenehmen Geruch aus ihrem Zimmer wahrnimmt, ungern tut was man tun muss, nun die Quelle suchen, um dann frustriert festzustellen, dass sie einfach vergessen hat wo der Eimer für die Windelhosen steht. Man fragt sich dann allen Ernstes, ob sie keine Lust hatte ist Bad zu latschen, oder ob sie wirklich so etwas Einfaches, Elementares vergessen hat. Ich weiß darauf auch keine Antwort. Obwohl manchmal verraten ihre Augen wo sie gerade ist. Ob sie hier ist und mich ankohlt, bzw. anschwindelt, oder ob sie irgendwo ist, wohin wir ihr nicht folgen können.

Zwei Mal in der Woche geht sie nun in eine Tagesbetreuung. Wenn dort gesungen wird, dann kommt sie ganz locker und gut gelaunt nach Hause. Wenn dort mal nichts los ist, dann ist sie mürrisch und brumselt vor sich hin, wenn sie wieder zurück ist. Ein Mal in der Woche wird sie für einen Spaziergang abgeholt, von dem sie fix und alle wieder nach Hause kommt. Allerdings, wenn es so heiß ist, bin ich mir nicht sicher, ob das mit 88 Jahren der Weisheit letzter Schluß ist und ob die beiden Frauen dann nicht besser die Zeit im klimatisierten Einkaufszentrum verbringen sollen.

Es wäre so schön mit meiner Schwiegermutter, wenn diese verfluchte Demenz nicht wäre. Ich vermisse ihre Art Tränen zu lachen, wenn sie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen wieder einmal zugeschlagen und jemanden rausgeworfen hat. Ich vermisse ihr Lachen, wenn wir über manche Streiche unseres Andreas gelacht haben. Ihr Lachen, wenn es um Vergangenes oder Gegenwärtiges geht. Ich vermisse ihr offenes Gesicht, das unter die Demenz verschlossen hat. Sie, wie sie war, ist nicht mehr da und ich vermisse sie so sehr.