ZEIT, ZU GEHEN

 

Damals, während des Plätzchenbackens, dachte ich

mir, dass Andreas, wenn er zwischen 20 und 25 Jahren

wäre, ausziehen würde.

Aber nun wurde Andreas bereits mit 16 immer

unzufriedener, egal was wir unternahmen, oder ob er

mit seinem Einzelfallhelfer unterwegs war. Er hatte

einen unglaublichen Freiheitsdrang entwickelt. Er

wollte einfach losgehen, mit dem Bus in die Stadt fahren,

einkaufen gehen, zu Freunden fahren, und er

wünschte sich welche, die zu ihm zu Besuch kommen.

Wie alle Pubertierenden hatte er so seine Eigenheiten

entwickelt. Für seine Schwestern, die nun 14 und

sechs Jahre alt waren, wurde es schwierig, mit ihren

Freunden ungestört in ihren Zimmern zu spielen. Für

mich wurde es nervig, Andreas immer und immer

wieder in meine Nähe zu holen. Für Andreas war es

ärgerlich, ausgeschlossen zu sein und das machte ihn

ungewohnt aggressiv.

Lautstark und aggressiv seine Wünsche durchsetzen

zu wollen, das kannte ich bei Andreas nicht. So

lieb wie er war, so unausgeglichen konnte er nun sein.

Natürlich ist die Pubertät irgendwann einmal ausgestanden,

aber das eigentliche Problem, dass Andreas’

Leben in unserer normalen Welt alles andere als fair

und sozial war, würde bleiben.

(…)

Als hätte Claudia geahnt, dass unsere Gespräche

sich um Andreas drehten, sagte sie eines Tages ganz

plötzlich aus heiterem Himmel: „Mama, für Andreas

ist es hier bei uns unfair.“

Ich schaute meine Tochter fragend an und antwortete:

„Wenn du so eine Behauptung in den Raum

stellst, dann musst du mir das auch begründen können.“

„Klar Mama, das mache ich gerne.“

Ihre Stimme klang wie immer strotzend vor Selbstbewusstsein.

„Schau, ich habe meine Freunde, verabrede mich

mit ihnen oder fahre auch einfach nur mal in die

Stadt. Bei Christine ist es nicht anders, nur, dass sie

geholt oder gebracht wird. Wir haben nach der Schule

unsere Freunde und unser eigenes Leben. Was hat

Andreas? Er hat zwar uns, aber das ist nicht genug.

Andreas hat keine Freunde und kein für ihn sozial

passendes Leben hier bei uns.“

Manchmal, wenn Kinder ihren Eltern derart ernste

Betrachtungen darlegen, holt man Luft, um Ihre Ausführungen

zu relativieren. Ich habe keine Luft geholt,

habe ihr einfach nur zugehört, ohne den geringsten

Ansatz, sie unterbrechen zu wollen. Eine kleine Pause

entstand. Abwartend schaute sie mich an, auf meine

Reaktion wartend.

 

(…)

 

Diese klare Sicht meiner Tochter, ihre deutlichen Worte,

ihre realistische Einschätzung von Andreas’

Situation, spiegelten ihre Reife wider.

Sie ließ eine nachdenkliche Mutter in der Küche

zurück. Worum ging es mir wirklich? Darum, dass ich

im Augenblick eine nie zuvor gekannte Müdigkeit

verspürte, die es mir schwer machte, meiner Aufgabe

gegenüber Andreas gerecht zu werden? Darum, mein

eigenes Leben so leben zu können, wie ich das eigentlich

wollte? Darum, frei zu sein von der riesigen Verantwortung?

Darum, der vielen Anfälle überdrüssig

zu sein? Um meinen eigenen Egoismus? War ich eine

Rabenmutter, wenn ich den Schritt wirklich gehen

würde? Es war ja nicht so, dass ich wirklich bereit

war, meinen Sohn gehen zu lassen. Nächtelang lag ich

wach, konnte nicht schlafen, suchte nach Wegen, für

ihn ein soziales Leben aufbauen zu können, dachte

nach, während ich einfach nur noch weinte. Musste

ich das wirklich tun? War es wirklich so, dass wir

Andreas nicht das geben konnten, was er zu einem

zufriedenen Leben brauchte? Andreas war immer

fröhlich, hatte immer den Schalk im Nacken, auch

wenn es ihm mal nicht so gut ging. Aber fröhlich und

glücklich, da lagen Welten dazwischen. Glücklich war

er anscheinend wirklich nicht mehr, sah er doch, welche

Freiheiten seine Schwestern genossen, was sie

alles durften und was ihm versagt war. Es ging bei

dieser Entscheidung gar nicht um mich, es ging um

Andreas.