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Manchmal verliert man seine Mitte

Es sind nicht die Tage, die man besser im Bett verbracht hätte, sondern die Tage, die das Bewußtsein für sich selbst wecken und man sich die Frage stellt: Warum tust du das alles? Ich habe hier unter Drehbuch „Demenz“ darüber geschrieben, dass meine demente Schwiegermutter bei uns lebt. Das ist zugegeben nicht immer einfach und verlangt so manches Mal, jetzt schon, mal das Überschreiten einer persönlichen Grenze ab. Die Deadline an der ich die Betreuung und Pflege in andere Hände legen werde, naht.

Nun ist meine eigene Mutter, die vor meiner Schwiegermutter nach Berlin gezogen war, erkrankt. Sie ist geistig fit, aber im Moment habe ich das Gefühl, dass ich eine postpubertäre Göre vor mir habe. Sie ist vor drei Jahren nach Berlin gezogen, weil ihr eigenes soziales Umfeld schlichtweg nach und nach gestorben ist und sie obendrein neben meinem Vater, nach meinem Bruder ungefähr dreißig Jahre zuvor, meine Schwester auf deren letzem Weg begleiten musste. Ich weiß wie es sich anfühlt, sein Kind auf seinem letzten Weg zu begleiten. Das lässt sich kaum beschreiben und ist mit  nichts zu vergleichen. Seit Anfang Juli bereitet sie mir nun einiges Kopfzerbrechen und nicht nur mir, auch dem Rest der Familie.

Gestern war Sonntag und ich habe meine Mutter besucht und wir haben über frühere Zeiten erzählt, als ich Kind war und mein Vater einen Wohnwagen gebaut hat, damit meine Mutter all ihre drei Kinder auch im Urlaub bei sich hatte. Ich erinnere mich gerne daran, da war Pont du Gard, das mich immer fasziniert hat, die Serpentinen, die mein Vater mit Auto und Wohnwagen hochgefahren ist, die Landschaft, die Fanta, die in Spanien orangiger war als in Deutschland, abgesehen davon, dass es zu Hause nie Fanta gab. Paella, mein Gott, wer in meiner Schulklasse wusste was das ist. Es war nicht so, dass wir im Urlaub jeden Abend zum Essen ausgegangen sind, dazu hätte das Geld nicht gereicht. Wir sind in der ersten und der zweiten Woche ausgegangen und in der dritten, am Tag vor unserer Abreise nach dem Verpacken unser Habseligkeiten, haben wir auf dem Campingplatz Grillhähnchen und Stangenweißbrot gekauft. Wir waren auch in Dänemark und ich erinnere mich, dass Onkel Gaston zur Begrüßung mit drei riesigen (so sind sie in meiner Erinnerung) Tüten Softeis mit Marmeladenklecks kam und uns Kindern das irgendwann an den Händen hinunterlief. Über all das haben wir uns unterhalten.

Plötzlich hielt ich inne, schwieg für einen Moment und habe laut festgestellt, dass ich gerne wegfahren würde, jetzt gleich sofort. Ich würde alleine losfahren wollen, von Berlin aus in Richtung Frankreich, dann über Paris nach St. Pierre bis nach Deauville in der Normandie. Ich möchte entlang der Atlantikküste weiter in Richtung Süden fahren, nach Spanien und Portugal bis es nicht mehr weiter geht. Dann weiter in Spanien, hier im Süden haben die Orangen am besten geschmeckt, waren die saftigsten, die ich jemals gegessen habe. Vorbei an Gibraltar führe ich an Spaniens Mittelmeerküsten entlang, soweit möglich Touristenzentren meidend. Dann geht das weiter nach Nordspanien, über die Provence in Richtung Nizza wo ich die besten Austern meines Lebens gegessen habe. Ich fahre nach Italien bis nach Rom, schaue mir meinen Lateinunterricht an. In der Toskana mache ich den längsten Halt, verbleibe eine Weile, raste ohne zu rosten, schreibe. Meine Mutter hörte nur zu, ohne eine Frage zu stellen, außer ob ich wirklich alleine fahren würde.

Ich fuhr nach Hause und las dann einen Artikel über einen Autor, der überrascht sein Erstaunen darüber zum Ausdruck brachte, dass er mit seinem Buch eine solch riesige Auflage erreicht habe. Es klingt nicht echt für mich, weil ihm doch klar sein musste, dass bei der Auswahl der Passagen, die zum Druck in einer großen Zeitung frei gegeben worden waren, die Auflage wie bei Feuchtgebiete nach oben gehen musste. Ich sitze da und überlege, wie unzählige andere Autoren wie ich auch, die sich tagtäglich abrackern woran es liegt, dass mein Gänseblümchen nicht diese Auflagen hat. Liegt es am Thema? An der Art wie es geschrieben ist? Daran, dass es ein lebensbejahendes Buch ist bei dem man lachen und weinen kann? Darf man nicht lachen und fröhlich sein, wenn man unsere Probleme hatte? Liegt es daran, dass wir in unserem Land viele Randprobleme haben, obwohl Gänseblümchen kein Problembuch ist. Möglich, dass es nicht laut genug jammert, weil wir trotz allem das Lachen immer wieder gefunden und nie ganz verlernt haben. Liegt es daran, dass ich nicht jene Verbindungen habe, die man heute einfach braucht? Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Ich werde das wohl auch nie erfahren. Wie kann ich mein eigenes Buch beurteilen? Ich meine, ich finde es gut, mir gefällt es. Aber ich bin an dieser Stelle nicht objektiv, aber können sich all jene irren, die es gelesen haben und denen es gefallen hat? Das klingt vielleicht alles sehr nach Neid. Natürlich kenne ich Neid, weiß ich wie es sich anfühlt, aber nur sehr vage, weil ich jedem Menschen seinen ehrlichen Erfolg gönne.

In dieser trübsinnigen, doofen Stimmung, die zu benennen mir total schwer fällt, lese ich auf dem Blog von Jens Schönlau über Stille, Ruhe, Konzentration bei der Arbeit, ein toller Artikel und ich muss an das denken, was ich meiner Mutter am Tag zuvor vorgeschwärmt habe: wegfahren, einfach alles hinter mir lassen. Ich sehe das letzte Bild meines Sohnes und schäme mich meiner Gedanken und dafür, dass ich das, was er mich gelehrt hat für Momente vergessen habe und ich habe Tränen in den Augen, dass ich alles hinter mir lassen wollte. Er, der so viel Glück empfunden hat, wenn er das einzige Gänseblümchen auf der Wiese nach dem Mähen gefunden hat, es mir gebracht hat, als sei es das Kostbarste was es auf dieser Erde gibt.

Das Gänseblümchen, das er mir mit einem Lachen gebracht, das war so viel kostbarer als alle Auflagenzahlen, das war und ist mein Leben.

Morgen, ist ein neuer Tag, ich werde mit fröhlichen Gedanken aufwachen, als erstes an das Lachen meines Sternenkindes denken, als er mir das Gänseblümchen gebracht hat und dafür dankbar sein, dass ich seine Mama sein durfte. Morgen, da wird alles wieder gut sein.

2 Kommentare zu „Manchmal verliert man seine Mitte“

  • Annegret says:

    Hallo Gitta,

    es gibt Tage, da möchte man alles hinschmeißen und sich von allem befreien. Man denkt, daß man sich in einer Zwickmühle befindet, aus der man nie herauskommen wird. Aber wenn man dann wirklich mal einen Tag frei machen kann, andere Leute sehen kann und sich mal unbeschwert bewegen kann, dann kommt es einem am nächsten Tag nicht mehr so schwierig vor. So geht es mir oft. An einem Tag verzweifelt, am nächsten Tag fröhlich. Das Leben macht es einem nicht so einfach.
    Ich wünsche Dir, daß Du morgen wieder neue Kraft gefunden haben wirst, um vorwärts zu schreiten, und nicht zu stolpern.

    Annegret

  • Gitta says:

    Hallo Annegret,
    danke für Deine lieben Worte.
    Heute ist ein neuer Tag. Es ist heute nicht schwerer als gestern, aber ich kann es wieder leichter nehmen. Das passiert, deswegen sind wir Menschen. Was wäre as Leben ohne zu stolpern, zu fallen und wieder aufzustehen? Langweilig oder?
    Herzlich
    Gitta

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