Gestern, vor dreißig Jahren
Jeder Tag verändert unser Leben, manche Tage sehr viel mehr als andere. Immer wieder neu, mal aufregender, mal besinnlicher, mal still und leise. Der 10. Geburtstag genauso wie der 20. oder 30., der Schulabschluss, Berufsabschluss, die Verlobung, wie die Hochzeit, das erste, zweite oder dritte Kind, auch die Scheidung kann einer dieser Tage sein. Geburt und Tod, das sind aber, meiner Meinung nach, die nachhaltigsten, prägendsten Ereignisse im Leben eines Menschen.
Der Tod eines geliebten Menschen ist ein Abschied, den wir alle irgendwann leben müssen. Wenn wir Kinder sind, werden es Oma oder Opa sein, die gehen müssen. Wenn wir älter sind, dann sind es unsere Eltern und dann kommt die Zeit, da es uns selbst trifft. Manchmal aber, da wird das Zeitschema ordentlich durchgerüttelt. Da gehen die Kinder vor den Eltern und die Großeltern stehen am Grab um ihre Enkel zu beweinen. Aber auch das gehört alles zum Leben dazu.
Die wichtigsten Tage in meinem Leben waren ganz ohne Zweifel die Tage, an denen meine Kinder geboren wurden. Jedes meiner Kinder hat seine eigene Geburtsgeschichte, die immer dann, wenn dieser Tag da ist, so präsent ist, als wäre es gestern gewesen. Gestern vor dreißig Jahren wurde mein Sohn geboren. Alles änderte sich mit seiner Geburt. Wir wurden Eltern, von heute auf morgen, hatten Verantwortung für ein Bündel Mensch zu tragen, das auf unseren Schutz, unsere Fürsorge unsere Pflege angewiesen war, unsere Liebe gehörte ihm sowieso. Nichts Ungewöhnliches, wir hatten ja neun Monate Zeit uns darauf vorzubereiten. Hatten wir und trotzdem standen wir in einigen Situationen die Kühe vorm Scheunentor, weil wir im ersten Moment keine Ahnung hatten, was zu tun war.
Zu behaupten, dass Andreas pflegeleicht war, na ja wahrscheinlich schon, aber ich denke mal wir standen uns da selbst im Weg, ist nun mal so beim ersten Kind. Fehler, die wir bei ihm gemacht hatten, passierten uns dann natürlich bei seiner Schwester nicht mehr und die allerletzten Fehler, die sich bei ihr eingeschlichen hatten, die waren endgültig passé, als die Jüngste des Trios geboren wurde. So ist das nun mal, man wird nicht als Mutter oder Vater geboren, auch das ist ein Lernprozess.
Andreas war also da und wir waren Eltern. Es war so unendlich schön ihn dabei zu beobachten, wenn er wach wurde, ihn zu riechen, nachdem er gewickelt war, seine Versuche zu greifen, sein Gesichtchen, wenn er zornig war und schrie, sein Lächeln, wenn er während seines Schlafes träumte und und und… so unendlich viel lässt sich aufzählen.
Seine ersten heiß ersehnten Schritte, die er verspätet machte, weil die Krankheit, die er wohl von Anfang an in sich trug, sich Monate davor einfach so, ohne uns zu fragen und schlagartig bemerkbar machte. Auch dieser Tag an dem wir das erste Mal in unserem Leben mit einem Anfall konfrontiert wurden, war ein besonderer Tag, der unser Leben vollkommen veränderte. Wenn es seine Geburt schon tat, dieser veränderte uns und unser Lebe um ein Vielfaches stärker. Wir waren vollkommen hilflos und erstarrt. Was nun? Wir mussten uns neu strukturieren, unser Leben ändern. Unser Kind ist krank, es hat eine Epilepsie, denn was sich zuerst als Fieberkrampf tarnte, entpuppte sich sehr schnell als eine solche. Einfach mal im Internet „googlen“ war nicht, viele Informationen gab es auch nicht. Wir waren auf uns selbst angewiesen.
Andreas scherte das alles nicht. Er war ein fröhliches Kind, nahm seine Medikamente und hatte trotzdem seine Anfälle. Im Rückblick muss ich sagen, dass seine Anfallskrankheit wie eine Wundertüte war: alle paar Wochen wurden wir mit einer anderen Anfallsart überrascht und was heute gut war, war morgen nicht mehr aktuell und wenn wir uns auf etwas eingestellt hatten, dann war auch das irgendwann vorbei und wir mussten uns auf Neues einstellen und wenn ich mich auf etwas gefreut habe, dann tat er das auch, aber mit einem Anfall. Es war eine verdammte, verfluchte Krankheit, die er sich da angelacht hatte, die er ganz sicher nicht wollte. Aber in Ordnung, es war nun mal so. Ich wollte ihn und wenn ich ihn wollte, dann musste ich ihn so nehmen wie er war, mit seinen Anfällen, mit seiner Behinderung, seinem immer stürmischen Gang, seinem unbändigen Liebdrücken, seinem schelmischen Lachen. Mit dem Tag seiner Geburt hat sich mein Leben verändert, mit dem Tag seiner Krankheit auch.
Er war ein toller Bursche. Ich muss neidlos anerkennen, dass ich nicht weiß, ob ich immer so fröhlich hätte sein können, wie er es war. Er konnte noch so schlecht drauf sein, man konnte ihn immer mindestens zu einem Lächeln bringen. Er ging seinen Weg, stur geradeaus, trotz seiner Krankheit.
Wäre die Krankheit nicht gewesen, vielleicht wäre ich schon Oma? Oder er wäre bei DSDS Superstar, oder ein Clown im Zirkus. Vielleicht wäre er der Nachfolger Casanovas geworden, oder ein Held wie Supermann. Er wäre vielleicht Arzt oder Lehrer geworden, Facharbeiter oder Straßenkehrer. Alles wäre mir Recht gewesen.
Er wäre gestern 30 Jahre alt geworden, wäre… Dieser Tag im Juli vor fünf Jahren, als wir gerufen wurden, dass… Auch das ist ein Tag, der mein Leben veränderte. Vielleicht nicht unbedingt mein Leben, aber auf jeden Fall mich. Ich habe ihn kennen gelernt, den Schmerz der Mütter, die ihre Kinder gehen lassen mussten. Ich habe diesen Schmerz in jeder Faser meines Körpers gespürt und muss sagen, das muss man nicht haben, man kann gut darauf verzichten, aber wir werden ja nicht gefragt. Und während für die meisten Menschen an diesem Tag damals weiter die Sonne schien, schoben sich für mich dunkle Wolken vor die Sonne und die Erde stand still, obwohl sie sich wie gewohnt weiterdrehte.
Die Zeit heilt Wunden, ja, das tut sie, aber es bleiben Narben, die mehr oder weniger gut verheilt sind. Die Trauer um meinen Sohn wird bis an mein Lebensende bleiben, allein der Schmerz ist erträglich geworden. Das wird sich wohl nie wieder ändern, aber man lernt damit zu leben. Ich vermisse ihn immer noch, Tag für Tag. Sein Lachen, sein schelmischer Blick, sein Gang, dass die Erde bebt, sein Liebdrücken, all das und so viel mehr.
Aber der Tag gestern vor dreißig Jahren, war einer der schönsten Tage meines Lebens, war der Geburtstag eines meiner wundervollen drei Kinder. Ich habe ihn genossen, jede Minute.
Liebe Frau Becker,
ich WEISS, was Andreas für ein toller Mensch war.
Wir haben uns auf dem Dravet Treffen im März gesehen und kurz, viel zu kurz, miteinander gesprochen.
Meine Tochter ist 5, fast 5 einhalb Jahre alt.
Ich habe gestern ihr Buch zu Ende gelesen. Sie haben mir oft aus dem Herzen gesprochen, sie haben mir auch ganz viele Denkanstösse gegeben. Ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür.
Sie haben mir erlaubt, einen echten Entwicklungsschritt zu machen, was das spätere Leben meiner Tochter betrifft.
Ich möchte Sie einfach virtuell ganz doll drücken. Ich hätte Andreas gerne kennengelernt.
Viele liebe Grüsse,
Carolin.