B-Kids und Gänseblümchen
Über einen ganz normalen Familienwahnsinn wollte ich schreiben, dass minutiös Geplantes einfach nicht hinhaut, wenn eine einzige Instanz nicht greift. Ich hatte den Artikel fast schon fertig, als mein Blick auf „B-Kids“ fiel, ein Journal für Körperbehinderte und ihre Umfeld.
Wohlverpackt in einem weißen Umschlag lag es im Briefkasten, als ich vom Frisör zurückkam. Ja, das muss auch ab und an mal sein. Neben all den samstäglichen Werbeflyern, war da eben jener große, weiße Din-A-4-Umschlag, der an mich adressiert war. Großes Fragezeichen über meiner Stirn. Ich hatte doch nix bestellt, kein Magazin geordert und die info3 hatte ich auch schon. Nichts dergleichen angefordert. Vorne auf dem Kuvert ein bunter Aufkleber, der daran erinnert, dass vom 06. – 09-. Oktober in Düsseldorf die Medicare, eine Messe für Rehabilitation, Prävention, Intgration, Pflege, stattfinden wird. Das geht in dem allgemeinen Trubel um die Buchmesser leider vollkommen unter. Über dem Aufkleber ein Stempel „Humanitas Verlag“. Jetzt ging mir ein Licht auf: vor einigen Monaten hatte ich ein Interview gegeben, das sich hauptsächlich darum drehte, dass ich meinen geistig behinderten Sohn Andreas in sein eigenes soziales Leben gehen ließ und um mein Buch „Gänseblümchen“.
Logisch, dass ich das Kuvert umgehend öffnete, das Journal sofort nach diesem Artikel durchsucht und ihn auch gefunden habe. Da war er, über drei Seiten, gespickt mit Informationen und dem Buchtipp für das „Gänseblümchen“, das mit „sehr lesenswert“ beurteilt worden war. Ich habe mich natürlich riesig gefreut. Irgendjemand in meiner Umgebung murmelte dann, es könne ja doch noch etwas mit der Auflage von 650.000 Stück werden. Ich guckte ein wenig verständnislos, worauf die Aufklärung, dass Sarrazins Werk diese Auflagenhöhe erreichen würde oder erreicht habe, folgte. Toll, prima, na diesen Vergleich kann ich ja gebrauchen.
Die ganze Zeit über, in der ich die entflammte Diskussion verfolgt habe, habe ich mir darüber so meine Gedanken gemacht. Klar, der Mann ist ein Mensch, der zu 100% weiß wie er sich in Szene setzen muss, um diesen VK-Erfolg zu haben. Das erkenne ich neidlos an. Öl in ein, im Bewußtsein der Menschen, vorhandenes Feuer zu kippen ist eins, sich dann aber zu wundern, wenn einem die Flammen entgegenschlagen, ein anderes. Klar die Flammen haben einen kleinen Flächenbrand ausgelöst, der aber bald wieder verlöschen wird. Die Folge, die Diskussion wird verlöschen und Sarrazins Kasse ohne Ende geklingelt haben. Sein gutes Recht, Geld zu verdienen.
Als Mutter eines behinderten Sohnes habe ich erfahren dürfen, wie es sich anfühlt, wenn man zu einer Randgruppe gehört, wenn Menschen sich auf der Straße, zwecks näherer Begutachtung eines vorübergangenen, nicht der Norm entsprechenden Objektes in Ruhe, stehen blieben und umdrehten. So ist es uns gegangen, wenn wir mit Andreas unterwegs waren und zwar ab dem Moment, da ihm seine Behinderung anzusehen war oder wenn er einen großen epileptischen Anfall hatte. Man spürt einfach die Blicke, die folgen, fühlt das Kopfschütteln, aber auch zustimmendes Nicken, weil er so seine eigene Art hatte auf Menschen zuzugehen. Andreas war, wenn wir zum Beispiel ein Restaurant oder eine Kneipe betreten haben, platsch! an jeden Tisch gegangen und hat jeden Gast mit Handschlag, seinem Namen und einem Lachen begrüßt. Dabei gab es Menschen, die das offen annahmen, andere waren verlegen und wieder andere wiesen es ab, wollten nichts damit zu tun. Berührungsangst eben. Im Moment habe ich da ein déjà vu, wenn ich mit Andreas‘ Oma auf der Straße gehe, was wegen ihres Alters von 88 Jahren, nicht mehr sehr ausgiebig möglich ist. Das kennen wir alles und es erschüttert uns nicht. Wir haben sie zu uns genommen, um sie zu betreuen solange wir das können. Aber nun stehe ich vor dem zusätzlichen Problem, dass meine eigene Mutter ebenfalls, wenn vielleicht auch nur vorrübergehend, pflegebedürftig ist. Das ist ein wirkliches Problem. Das führt zu einem Spagat, bei dem ich aufpassen muss, nicht am Boden sitzen zu bleiben.
Bei allem Verständnis für die Migrationsproblematik, die immer mal in die Diskussionsrunden getragen wird, aber ich glaube, dass wir weit größere Probleme als das haben zeigt gerade unsere Situation: unsere Bevölkerung wird immer älter und die Zahl der Pflegedürftigen steigt stetig und das finanzielle Problem hier wird ebenfalls größer werden. Wir scheinen uns nicht klar darüber zu sein, dass wir in absehbarer Zeit horrende Beiträge in die Pflegekassen leisten müssen. Der Wunsch ist allerdings der Vater des Gedanken als Angehörige mehr für die häusliche Pflege zu bekommen und wird das auch bleiben. Es ist und bleibt für Familien sehr schwer, permanent eine 24-Stunden-Betreuung zu leisten. 24 Stunden, das sind drei Schichten und das 7 Tage jede Woche. Trotzdem sind wir eine fröhliche Familie und leisten das gerne, solange es geht.
Der Artikel im Journal „B-Kids“ hat mir sehr gut gefallen und Gänseblümchen wurde als „sehr lesenswert“ empfohlen. Das hat mich natürlich wahnsinnig gefreut, dennoch würde ich mich sehr freuen, wenn noch mehr Menschen ihre Berührungsängste überwinden könnten, damit sie dadurch erfahren, dass wir, wie die meisten anderen Familien mit behinderten Kindern, eine vollkommen normale Familie waren und immer noch sind. Wer weiß, vielleicht hat dann die Stimme, die da raunte es könne so ja was mit der brummel-grummel-Auflage werden, doch Recht. Gänseblümchen ist wie wir sind: ein fröhliches Buch.