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Vorgezogen

Ich glaube, dass jeder Mensch einen „glücklichsten Tag“ in seinem Leben hat, aber es gibt auch diese miesen, diese elenden Daten, die man überspringen möchte, die man gerne im Kalender schwärzen würde. Könnte man tun, aber es ändert ja nichts, den Tag gibt es trotzdem. Es gibt ja auch Menschen, denen das Datum egal ist und wieder andere hatten genau zu diesem Datum ihren glücklichsten Tag in ihrem Leben. Wer meinen Blog kennt, der weiß, dass mein mieses Datum der 28. Juli das Datum ist, das ich nicht mehr leiden mag. Manchmal ist meine Wut größer, manchmal kleiner, manchmal ist es lebbar, manchmal fast immer noch nicht.


Dieses Datum hat es für mich in sich: meine Schwester und meinen Andreas hat es geholt, meine Schwester 2002, meinen Andreas 2005. Fünfzehn und zwölf Jahre. Ich vermisse beide noch immer. In diesem Jahr ist mir dieser Tag wieder bewusster und vor allem auch wie hilflos wir sind, wenn der Tod sich nimmt, was wir nicht hergeben wollen, was wir unser Leben lang halten wollen. Es ist nicht fair, wenn ein Kind vor seinen Eltern gehen muss.

 

Es fühlt sich für mich in diesem Jahr anders an: Durch mein Buch „Gänseblümchen“ habe ich eine Menge Eltern kennen gelernt, deren Kinder, wie Andreas es hatte, an einem Dravet Syndrom erkrankt sind. Ich könnte jetzt ellenlang erklären, was das ist und wie die Kinder mehr oder weniger eingeschränkt sind und nicht nur die Kinder selbst, auch die Familien, die Geschwister, einfach alle. Freunde wenden sich ab, weil sie den Anblick von epileptischen Anfällen nicht mehr ertragen können, weil sie nicht verstehen, dass diese Familien nicht alles mitmachen können, so sehr sie sich auch darum bemühen. Ständig hängt man bei Ärzten herum, die im besten Fall wissen wie man Dravet schreibt, nimmt weite Strecken auf sich, um in Spezialambulanzen auf die Ärzte mit Ahnung zu treffen. Das Dravet bestimmt eindeutig das Leben, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen und auch noch in der Nacht, wenn die Überwachungsgeräte anschlagen.

 

Die größte Angst, die Eltern mit Dravetchen haben, ist die, dass der Tod kommt, leise unbeachtet schleicht er sich ein, um dann in Form eines SUDEPs zuzuschlagen. Wie bei Andreas. Wie bei Noah vor Kurzem. Noah wäre heute, weshalb ich meinen Artikel schon schreibe, vier Jahre alt geworden. Ein süßer Knopf, der in vollen Zügen sein Leben genossen und gelebt hat. Intensiv war in allem, was er getan hat, sehr zur Freude seiner Eltern, ganz bestimmt mit ein paar grauen Haaren mehr. Noah ist gegangen. In den frühen Morgenstunden eines Montags wurde er abgeholt. Trotz der, von seiner Mama eingeleiteten Sofortmaßnahmen, ließ der Tod ihn nicht mehr los. Das lief ähnlich ab wie bei Andreas, fast identisch, all meine Erinnerung war schlagartig vor meinen Augen, wie der Morgen war, meine Gefühle, die ich hatte, wie die Fahrt zu Andreas nicht enden wollte.

 

Dravet ist eine Monsterkrankheit, ist ein Monster, dessen Gehilfe SUDEP, tut wozu er geschickt wird. Klingt alles etwas mystisch, aber so ist das, nur so können die Eltern damit umgehen. Dravet ist ein Monster, es ist ein Arschloch! „Yippie-Yah-Yeh Schweinebacke, hau ab!“ nur Bruce Willis ist in dem Moment, da man ihn bräuchte nie da. Die Eltern sind allein in diesen Momenten. Niemand weiß ob und wer das nächste Kind sein wird und es sind viele, zu viele. Damit leben zu müssen, das könnte jeden Tag passieren, ist so mies.

 

Das hilft aber den verwaisten Eltern nicht mehr. Sie müssen mit/ohne Noah leben. Früher, so in der ganz alten Zeit, da gab es mal das Trauerjahr, in dem – vor allem Witwen – schwarz trugen, wenn jemand ganz nah verwandtes aus der Familie verblichen war. Es hat etwas mit dem Trauerjahr auf sich, denn man muss alles ein Mal ohne den Menschen, den man so unendlich geliebt hat und der nicht mehr da ist, leben, um zu verstehen, dass man es schaffen kann, schaffen wird. Keine Mutter, kein Vater vergisst, wie sein Kind gerochen hat, vergisst den Klang seiner Stimme, oder wie seine Schritte über den Fußboden hallten. Niemand. Das gehört zu den größten Ängste, auch wenn das niemals passieren wird. Für Noahs Eltern wird das noch ein langer Weg auf der Schiene der Zeit sein, den sie gehen müssen, bis sie sagen können, dass sie mit/ohne Noah leben können, mit Trauer und Schmerz im Herzen, aber, dass es lebbar ist. Geht weiter auf der Schiene der Zeit, ihr seid nicht alleine, viele stehen an Eurer Seite, ihr macht das, ich schafft das!

 

Noah hat heute Geburtstag, ein schwerer Tag für Euch! Ich versichere Euch, das wird eine große Sause heute da oben werden, weil mein Andreas ein Partylöwe war und Party feiern eins seiner Hobbys war. Wer Zeit hat, der möge einen Luftballon, egal von wo, nach oben schicken. Happy Birthday Noah!

 

Nächste Woche sind es zwölf Jahre. Eine lange Zeit und eigenartigerweise vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Andreas denken muss. Egal aus welchem Grund, er ist immer noch da, in meinem Herzen, in meinen Gedanken, ich kann ihn immer noch riechen und fühlen, das wird niemals enden. Haltet Eure Kinder fest in Euren Armen, egal, ob sie klein oder schon groß, krank oder gesund sind, niemand weiß, ob es nicht das letzte Mal ist. Jeder Streit, jede Differenz kassiert Lebenszeit, die man schlauer miteinander verbringen kann. Verzeihen ist mitunter besser als verharren, miteinander reden, besser als schweigen. Das Leben ist zu kurz und zu kostbar, um es zu verschwenden.
Ich wünsche Euch allen einen guten Tag heute, einen lebbaren für Noahs Eltern. Geht weiter! Ihr packt das! Einen schönen Tag für Euch alle, einen fröhlichen Tag, einen an dem das Lachen das Weinen beendet. Seid gut zu Euch, passt alle auf Euch auf, geht sorgsam mit Euch und Euren Mitmenschen um: Laßt es Euch gut gehen!

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